Francisco Ferrer – Die moderne Schule – Escuela Moderna
Francisco Ferrer – Die moderne Schule – Escuela Moderna
von Pierre Ramus: Die moderne Schule
Die "Escuela Moderna", die Ferrer im August 1901 in Barcelona eröffnete, war nicht die erste ihrer Art in Spanien. Die organisierte Freidenkerbewegung selbst hatte seit langem die dringende Notwendigkeit eingesehen, dem religiösen Aberglauben und seinen verderblichen Folgen durch rationalistische und nichtkirchliche Schulen entgegenzuarbeiten.
Bereits im Jahre 1885 wurde die nicht kirchliche Schule: "La Verdad" (Die Wahrheit) in San Felice de Guipolo gegründet. Sie war die am besten ausgestattete Schule der ganzen Stadt und wurde von einer großen Anzahl von Schülern besucht. 1888 errichtete der Freidenkerverein "Die Freunde des Fortschritts" in Madrid eine ähnliche Schule. Die Statuten des Vereins gaben als dessen Hauptzweck an: "Die Schaffung und die Verteidigung nichtkirchlicher Schulen für Knaben und Mädchen mit allen nötigen Klassen und Graden".
Auf dem internationalen Freidenkerkongress im Jahre 1889 waren sechzig spanische Freidenkervereine vertreten, und aus dem vorgelesenen Bericht geht hervor, dass diese ihre Hauptaufgabe im Kampf für die nicht-kirchliche Erziehung sahen. Mehrere dieser Vereine erhalten nicht-kirchliche Schulen, und ihr Bestreben ist, ihren Einfluss dahin geltend zu machen, dass der Religionsunterricht aus sämtlichen Volksschulen gänzlich verschwinden soll.
Dies war die Atmosphäre und Gefühlsrichtung betreffs der Religion in den Schulen während den paar Jahren von Versuchen und Vorbereitungen vor der Gründung der "Escuela Moderna". Während all dieser Zeit hatten Gruppen von fortgeschrittenen Denkern – Sozialisten, Anarchisten, Freidenker, Syndikalisten und Genossenschaftern – ihre Geldmittel gesammelt und vereinigt, ihre gemeinsamen Komitees gebildet, Schulen gegründet, Unterrichtsmaterial gekauft und Lokale gemietet, um sich selbst und ihre Kinder von Unwissenheit, Aberglauben und geistiger Sklaverei zu befreien. Sie waren entschlossen, selber das zu tun, was die Regierung nicht für sie tun wollte.
Fransisco Ferrer Guardia
Und als Ferrer 1901 sich ans Werk machte, die Bestrebungen der antiklerikalen Schulen einheitlich zu organisieren, dieselben mit neuen Textbüchern zu versehen und ihre Unterrichtsstunden auf das höchste Niveau der modernen Pädagogik zu erheben, war dies ein höchst empfindlicher Schlag für die Mächte des religiösen Aberglaubens und der klerikalen Herrschaft.
Der geistige Boden war also gut vorbereitet für die Saat die Ferrers Moderne Schule in Barcelona ausstreute. Sein großes Verdienst bestand nicht bloß darin, der Bewegung einen neuen Anstrich gegeben zu haben, sondern hauptsächlich darin er seine Begeisterung, sein Vermögen, sein Organisationstalent der Aufgabe widmete, die bereits ausgestreute Saat zur Reife zu bringen, die Methoden des Unterrichts zu vervollkommnen, und den Schulen eine reiche und mannigfaltige Reihe von Textbüchern zu geben.
Ferrers Moderne Schule war nicht die erste ihrer Art, aber jedenfalls die lebenskräftigste von allen nicht-kirchlichen Schulen Spaniens. Bald vermehrte sich die erste in Barcelona gegründete Schule, ihr Einfluss breitete sich aus, und im Jahre 1906 gab es in Katalonien und anderswo bereits sechzig Schulen nach ihrem Muster.
Betrachten wir nun die Grundzüge von Ferrers Bestrebungen und ihre praktische Durchführung. Im Manifest, das Ferrer anlässlich der Eröffnung der ersten Schule in Barcelona herausgab, äußerte er sich folgendermaßen über seine Ideen:
"Die eigentliche Frage besteht für uns darin, sich der Schule als des wirksamsten Mittels zu bedienen, um zur vollständigen geistigen, intellektuellen und wirtschaftlichen Befreiung der Arbeiterklasse zu gelangen. Wenn wir uns alle darüber einig sind, dass die Arbeiter, oder besser gesagt, die ganze Menschheit, nichts von irgend einem Gott oder irgend einer übernatürlichen Macht erwarten darf, können wir diese Macht durch eine andere, z.B. den Staat, ersetzen? Nein, die Befreiung des Proletariats kann nur das unmittelbare und selbstbewusste Werk der Arbeiterklasse selbst, ihres Willens zu lernen und zu wissen, sein. Wenn das arbeitende Volk unwissend bleibt, so wird es immer in der Knechtschaft der Kirche oder des Staates, d.h. des Kapitalismus, der diese zwei Mächte vertritt, verbleiben. Wenn es im Gegenteil seine Kraft aus der Vernunft und dem Wissen schöpft, wird sein wohlverstandenes Interesse es bald dazu bringen, der Ausbeutung ein Ende zu machen, damit der Arbeiter das Schicksal der Menschheit in seine Hände nehmen kann. Deshalb handelt es sich unserer Meinung nach vor allem darum, die Arbeiterklasse in die Lage zu versetzen, diese Wahrheiten zu verstehen.
Begründen wir ein Erziehungssystem, durch das das Kind rasch und leicht dazu gelangen kann, den Ursprung der wissenschaftlichen Ungleichheit, der religiösen Lüge, der verderblichen Vaterlandsliebe und der althergebrachten Gewohnheiten in der Familie und anderswo, die es in Sklaverei erhalten, zu erkennen. Es ist nicht der Staat, der Ausdruck des Willens einer ausbeuterischen Minderheit, der uns helfen kann, dieses Ziel zu erreichen. Dies zu glauben, wäre der verderblichste Wahnsinn.
Wenn ihr gute Kaufleute, geschickte Buchhalter, fähige Beamte haben wollt – mit einem Wort Leute, die bloß daran denken, sich ihre eigene Zukunft zu sichern, ohne sich um andere zu kümmern – dann wendet euch an den Staat, an die Handelskammern, an alle patriotischen Vereine und Gesellschaften. Wenn ihr aber eine Zukunft der Brüderlichkeit, des Friedens und des Glückes für Alle vorbereiten wollt – wie ihr es wollen müsst! – dann wendet euch an euch selber, an jene, die unter dem bestehenden System leiden und gründet Schulen wie die unsere, in der ihr alle Wahrheiten, die die Menschheit erworben hat, lehren könnt."
Das Programm der Schule gibt weiter Aufschlüsse über die Organisation und die in ihr erteilte Art des Unterrichtes:
Die Aufgabe der "Modernen Schule" ist: die ihr anvertrauten Kinder – Knaben und Mädchen – so zu erziehen, dass sie zu Männern und Frauen werden, die frei und selbständig denken und die Wahrheit und Gerechtigkeit lieben. Um dieses Ziel zu erreichen, ersetzt die Schule die dogmatische Methode der Theologie durch die vernunftgemäss Methode der Naturwissenschaft, mit der Absicht, die besonderen Fähigkeiten eines jeden einzelnen Schülers zu erwecken, zu entwickeln und zu kultivieren; so dass die angeborenen und verborgenen Fähigkeiten eines jeden Kindes vollen Spielraum erhalten und so dasselbe nicht nur ein nützliches Mitglied der Gesellschaft, sondern auch, dank seiner speziellen Erziehung, ein Werkzeug der geistigen und moralischen Hebung der Masse werden kann. Der Unterricht ist auf der fortschreitenden Entwicklung des Kindes aufgebaut und vermeidet alle atavistischen reaktionären Instinkte – Religion, Rassenfeindschaft, Klassenvorurteile, Kriegsleidenschaft und Vergeltungssucht -, die im Kinde das tote Gewicht der Vergangenheit darstellen und jeden freiheitlichen und zielbewussten Versuch zur Verwirklichung einer besseren Zukunft für die Menschheit vereiteln. Unser Unterricht erkennt weder Dogmen noch Gebräuche an, denn dies sind Formen, die das Leben des Gedankens in Schranken einzwängen, die durch die Forderungen vorübergehender gesellschaftlicher Zustände errichtet wurden.
Wir verbreiten nur die Ergebnisse, die durch die Tatsachen bewiesen, die Theorien, die durch die Vernunft bestätigt, die Wahrheiten, die durch unumstößliche Beweise bekräftigt sind. Der Zweck unseres Unterrichtes ist, dass das Denken der Menschen ein Werkzeug seines Willens werden soll. Wir wollen, dass die Wahrheiten der Wissenschaft in ihrem eigenen Lichte leuchten und das Denken eines Jeden erhellen, so dass dieser bei seiner Betätigung der Menschheit Glück schaffen kann, ohne dass, wegen der ungerechten Privilegien von Einigen, Andere dafür zu leiden haben.
Es ist unzweifelhaft, dass das Kind ohne irgend welche vorgefassten Ideen auf die Welt kommt, und dass es während seines Lebens die Idee jener erwirbt, die es umgeben und sein Denken beherrschen. Des weiteren ändert das Kind seine Erfahrungen je nach seiner Beobachtungsfähigkeit und seine Ideen werden durch die Verhältnisse seiner Umgebung bestimmt. Es ist also klar, dass, wenn das Kind so erzogen werden kann, dass es von den wissenschaftlichen Wahrheiten über die Welt, die es umgibt, Kenntnis erhält, und beizeiten gewarnt wird, dass, um Irrtümern vorzubeugen, man unter keinen Bedingungen an irgendetwas blind glauben soll, sondern nur jene Wahrheiten anerkennen darf, die von der Wissenschaft bewiesen sind -dass sich sein Geist in einer dann für jegliches Studium günstigen Richtung entwickeln wird. Um also das Kind in die Lage zu versetzen, sich selbst ein unabhängiges Urteil über die verschiedenen Probleme des menschlichen Lebens zu bilden, ist es wichtig, dass dem Kinde alles, in der Natur und in den Büchern, so dargelegt werde, wie es in Wirklichkeit ist, und nicht so, wie es gewöhnlich in den Schulbüchern dargestellt wird, die bekanntlich mit religiösen und sozialen Vorurteilen getränkt sind. Die Kinder so zu erziehen, dass sie sich frei von Vorurteilen entwickeln, und solche Lehrbücher herauszugeben, um diesen Erfolg zu erzielen – dies ist der Zweck der Modernen Schule.
Ferrer nahm nicht den Standpunkt ein, dass die für die Kinder bestimmten Bücher nicht von Gott, Religion und anderen sozialen Dogmen reden sollten. Im Gegenteil, er war überzeugt davon, dass die rationalistische Schule alle diese Probleme besprechen kann und muss, um den Weg für das Kind von alledem frei zu machen und ihm, nach reiflicher Prüfung, seine eigene Abstammung und den Ursprung aller Leiden, die die Menschheit in Form der bestehenden Gesellschaftsordnung und ihrer Kämpfe, zum Bewusstsein zu bringen. Mit einem Wort, der Rationalismus in der Schule muss aus dem Kinde einen selbstbewussten Menschen machen, der seine eigene Natur und die Natur, die ihn umgibt, kennt, so dass er, getreu den Prinzipien, von welchen er durchdrungen ist, im Leben seiner Vernunft folgen und zum besten Wohle Aller handeln kann.
Die Ausführung dieses Programms blieb in nichts hinter dem Ideal zurück. Bereits in der ersten Abteilung, die aus ganz kleinen Kindern besteht, wurden die ersten Einführungselemente der literarischen und wissenschaftlichen Kenntnisse unterrichtet. In dieser, wie in allen übrigen Abteilungen werden ausschliesslich die von der Schule selbst herausgegebenen Lehrbücher in die Hände der Kinder gegeben. Das erste Lesebuch ist zu gleicher Zeit die Fibel, Grammatik und ein illustriertes Handbuch der Entwicklung der Natur. In einfacher und dem Kinde leicht verständlicher Sprache wird darin der Gang der Weltentwicklung vom Atom bis zum Menschen geschildert. Dies letztere geschieht in der Form eines Gesprächs zwischen Kind und Lehrer, aus dessen Schlusssätzen wir einiges anführen wollen:
Schüler: Also warum besteht das Weltall?
Lehrer: Das Weltall besteht einfach deshalb, weil es besteht. Das Weltall ist die Allgemeinheit der Substanz. Die Wissenschaft zeigt uns, dass von dieser Substanz nicht das allerkleinste Teilchen geschaffen oder zerstört werden kann; die Substanz ist also unzerstörbar und ewig. Der Begriff der Ewigkeit macht aber die Idee einer Weltschöpfung unmöglich; die beiden sind unvereinbar. Wenn wir unter Weltall das gerade zur Zeit bestehende Weltall verstehen, können wir antworten, dass dieses Weltall deshalb besteht, weil die Substanz, d. h. alles, was ist, nämlich die Materie und die Energie, sich unaufhörlich verändert. Das Weltall ist zu jedem gegebenen Moment der Zustand der Materie und der Energie in diesem gegebenen Moment. Um also das Warum des bestehenden Weltalls recht zu verstehen, ist es notwendig, nachdem wir die Ewigkeit der Substanz festgestellt haben, deren Umwandlungen bis auf heute herab zu verfolgen; und dabei müssen wir alle eingebildeten Erklärungen vermeiden und uns ausschließlich auf die Beobachtung und Erfahrung stützen. Wenn wir so dargelegt haben, wie sich die Substanz verändert, hat uns dies gezeigt, warum das bestehende Weltall besteht, und warum es so ist, wie es ist.
Schüler: Ja, ich verstehe: Das Weltall ist der Begriff, den sich der Mensch von der Allgemeinheit der Substanz macht. Was für einen Nachteil brächte es aber zu sagen: Die Substanz ist Gott ?
Lehrer: Einen sehr großen. Das Wort Gott erweckt in uns den Gedanken an einen Schöpfer, eines phantastischen allmächtigen Wesens, und wenn die Substanz seit aller Ewigkeit besteht, kann sie nicht erschaffen worden sein, also kann auf diese Substanz unmöglich der kindliche Begriff eines allmächtigen Herrschers angewendet werden. Die Zeiten der abergläubischen Furcht, in der die primitiven Völker lebten, sind vorüber. Wir wollen nicht metaphysische Erklärungen auf jene Tatsachen anwenden, deren Ursache wir erkennen können. Wir müssen zwischen den zwei Weltanschauungen: der dualistischen und der monistischen wählen.
Schüler: Was sind diese Weltanschauungen? Kannst du mir das erklären
Lehrer: Die dualistische Weltanschauung nimmt im Weltall einen Schöpfer an, d.h. ein Wesen ausserhalb des Weltalls, das nicht das Weltall ist und das Weltall erschaffen hat. Aber dabei tauchen die Fragen auf: Wer hat diesen Schöpfer erschaffen? Wo war er und was tat er während der Ewigkeit., ehe die Welt erschaffen wurde ? Die Idee der Gottheit ist eine blosse Einbildung; und sie hat zur Folge, dass die Dualisten den grossen Irrtum begehen, ihr Verhalten im Leben dem angeblichen Willen dieser unvernünftigen metaphysischen Hypothese unterzuordnen, sie das höchste Wesen zu nennen. Die monistische Weltanschauung gründet sich nicht auf eingebildete Spekulationen, sondern auf die Tatsachen der Wissenschaft. Sie nimmt nicht das Dasein eines Schöpfers an, sondern zieht ihre Schlussfolgerungen aus dem Bestehen und der Unvergänglichkeit der Substanz durch all ihre Umwandlungen hindurch.
Schüler: Und soll man mit der Idee der Gottheit zusammen auch alle Gedanken eines zukünftigen Lebens und einer unsterblichen Seele verwerfen?
Lehrer: Das ist unzweifelhaft. Diese Ideen leiten sich ab von der Hoffnung, nach der, im Gegensatz zu allen Ergebnissen, zu denen die Wissenschaft gelangt ist, gewisse Erscheinungen der Energie, die wir nur in der Tätigkeit von gewissen Organismen beobachten, in derselben Form weiterbeständen, auch wenn diese Organismen schon aufgehört haben zu funktionieren und sogar dann noch, wenn dieselben sich schon aufgelöst haben.
Schüler: Also du sagst, dass diese Hoffnung falsch ist?
Lehrer: Natürlich. Es ist leicht zu beweisen, dass das Dasein eines Individuums streng durch die Befruchtung einerseits und den Tod andererseits begrenzt ist. Ausserhalb des Daseins des Individuums können wir uns kein Dasein für sich vorstellen. Deshalb müssen wir während unseres Daseins nach unserem Glück streben, anstatt uns "dem Schicksal" zu fügen und auf ein angebliches Dasein nach dem Tode zu hoffen. Hoffen wir, dass bald alle Menschen dazu gelangen, diese Wahrheiten zu begreifen, ohne die die Bestrebungen, eine vernünftige Gesellschaft zu begründen, erfolglos bleiben müssen.
Schüler: Was du gesagt hast, hat mich überzeugt. Ich werde von nun an auch einer jener sein, die bestrebt sind, zur Begründung einer vernünftigen Gesellschaft beizutragen
Ferrers Lesebuch wurde in kurzer Zeit in zwei Auflagen von je 10.000 Exemplaren vergriffen. (...)
"Das Ziel des alten Erziehungssystems war, wenn auch nicht offen ausgesprochen, so doch tatsächlich, das folgende: den Menschen die Nutzlosigkeit des Wissens zu lehren, damit diese sich dem materiellen Entbehrungen des Lebens fügen, sich mit der erträumten Entschädigung eines ewigen himmlischen Glückes nach dem Tode begnügen und in der heiligen Furcht vor den ewigen Strafen erhalten bleiben. Deshalb pflegte es die Kinder mit Geschichten, Anekdoten, Reisebeschreibungen, Brocken von klassischer Literatur usw. zu unterhalten und ihnen einen Unterricht zu erteilen, in welchem Gutes und Nützliches mit Unwahrheiten vermischt war.
Aber all das führte zu einem ungerechten Gesellschaftszustand; denn die Geister wurden dadurch ausschließlich mit mystischen Ideen genährt und so daran gewöhnt, zwischen einer übernatürlichen Macht und den Menschen die Vermittlung des Priesters dieser Macht anzuerkennen. Und diese Priester sanktionierten die Grundlagen ihrer privilegierten Stellung; sie rechtfertigten das Bestehen der privilegierten und enterbten Klassen und, aus diesem folgernd, alle Ungerechtigkeiten, unter welchen die Menschen – ein jeder in seiner speziellen Lebenslage – leiden. Die Moderne Schule ist im Gegenteil bestrebt, freie, verantwortliche Intelligenz heranzubilden, die befähigt sind, in vollständiger Entfaltung all ihrer menschlichen Fähigkeiten zu leben. Sie muss sich notwendigerweise ein vollkommen entgegengesetztes Ziel setzen; sie muss einzig und allein die bewiesene und beweisbare Wahrheit unterrichten, jegliche Lüge oder Fabel ablehnen und immer das Licht gegen die Dunkelheit begünstigen." (...)
Ein anderes hochwichtigstes Buch ist "Die Universal-Substanz" von Paraf-Javal und A.Bloch. Dieses kleine, sehr einfach geschriebene Buch löst die Lebensrätsel in ihre einfachsten natürlichen Bestandteile auf, damit die Grundlagen des Zauber- und Wunderglaubens wissenschaftlich gestürzt und aus dem menschlichen Denken hinweggefegt werden können. Ferrer betrachtet dieses Werk als das wichtigste unter den Ausgaben der Modernen Schule. Im Vorwort sagt er:
"Es war notwendig, einen Damm zu errichten gegen den Einfluss, der durch Vererbung und Atavismus in der Familie und in der Schule, infolge der Unwissenheit der Eltern und Freunde und bestärkt durch die unvernünftigen Unterrichtsmethoden auf das Kind ausgeübt wird. Die Moderne Schule, im Bewusstsein dessen, dass die Religion eine bestehende soziale, politische und wirtschaftliche Tatsache ist, mit der man rechnen muss, hat beschlossen, sowohl den Kindern, wie ihren Lehrern, die geistigen Waffen zu liefern, die dieses Buch bietet, um sie fähig zu machen, dem Ansturm des Aberglaubens zu widerstehen. Zu gleicher Zeit wird das Kind dazu ermutigt, selbst zu denken und seine Persönlichkeit in Wesen und Ausdruck zu entwickeln.
Der Unterricht ist bis in den kleinsten Teil auf diesem Prinzip gegründet. Wenn das Kind an seinem Pult in der Schule sitzt, wenn es sich an den nahen Wäldern oder am Meeresstrand mit seinen Kameraden und Lehrern ergeht, wenn es mit ihnen eine Fabrik in der Stadt, oder eine technische Anlage oder ein wissenschaftliches Laboratorium besucht – immer wendet man sich vor allem an seine eigene persönliche Beobachtung, um in ihm das denkende Interesse für alle verschiedenartigen Gegenstände, die es umgeben, zu erwecken. Anstatt seinen Kopf mit Kenntnissen vollzustopfen, versucht man, dieselben sich aus seinem eigenen Bewusstsein entwickeln zu lassen, so dass sie die Folgen seines selbständigen vernünftigen Denkens sind. So wird der Unterricht zum Zusammenarbeiten, zur Kameradschaft zwischen Schüler und Lehrer. Durch diese rationellen Methoden wird der Geist des Kindes so entwickelt, dass er für alles Schöne und Gute empfänglich bleibt." (...)
Eine freie und glückliche Kindheit! Dies ist der Weg, auf welchem die Kämpfer für eine freie und glückliche Menschheit heranwachsen werden. Dieses Ideal war es, dem Ferrer ohne Unterlass nachstrebte. Aus dem Gefängnis (anlässlich seiner ersten Verhaftung im Jahre 1906) schreibt er an Professor Heaford darüber:
"Ich habe mich nach einigen Monaten dieser humanitären und wissenschaftlichen Erziehung überzeugen können, was für Männer und Frauen emporwachsen werden, wenn wir den Kindern eine rationelle Erziehung geben. Es war eine Freude zu sehen, wie sich zwischen Knaben und Mädchen in Freundschaft und gegenseitiger Achtung das Gefühl der Kameradschaft entwickelte. Die herrlichsten Beziehungen bestanden zwischen den Lehrern und ihren Schülern, da alle von dem Wunsche durchdrungen waren, eine ideale Gesellschaft zu verwirklichen, deren Grundlagen die gegenseitige Zuneigung und Solidarität ist."
Ferrers erste Verhaftung
Man kann sich leicht vorstellen, welch eine Furcht und Wut die Priesterschaft und die Regierung erfasste, als sie die Ausdehnung sah, die der Einfluss dieser echten Modernen Schulen im ganzen Lande gewann. Von den Kanzeln der Kirchen und in den klerikalen und konservativen Blättern wurde Ferrer als der ärgste Verbrecher, als der Teufel in menschlicher Gestalt dargestellt; es gab keine Schandtat, der man diesen schlichten hochsinnigen Mann nicht bezichtigt hätte.
Man musste mit allen Mitteln eine Gelegenheit finden, um ihn unschädlich zu machen. Und als am 31. Mai 1906 Matteo Morral eine Bombe vor den Hochzeitswagen des Königs Alfons XIII. warf – die bekanntlich das Königspaar unverletzt liess – war es selbstverständlich, -dass Ferrer als der "geistige Urheber" dieses Attentats hingestellt wurde. (...)
Nachdem er ein Jahr im Untersuchungsgefängnis zugebracht, wurde Ferrer vor einen Zivilgerichtshof gestellt. Die Anklage war mit allen Mitteln bestrebt, durch erkaufte Zeugen, gefälschte Dokumente und Beeinflussung der Richter, der Geschworenen und der öffentlichen Meinung, seine Verurteilung zum Tode oder zumindest zu lebenslänglichem Kerker zu erwirken. Aber der Gerichtshof brauchte, um wenigstens konventionell die Form zu wahren, Beweise für seine Schuld. Der Staatsanwalt erklärte schliesslich, er hätte keine Beweise, dass Ferrer am Attentat mitschuldig sei,
"aber er habe die moralische Gewissheit darüber".
In einem seiner Briefe aus dem Gefängnis schrieb Ferrer:
"Ein jeder denkt, dass ich sicher freigesprochen werde, Becerra del Torro (der Staatsanwalt) aber erklärt, dass er meinen Kopf will, weil er glaubt, dass ich von den Absichten Morrals Kenntnis gehabt habe. Wer kann sagen, wer siegen wird: Die Wahrheit oder Becerra del Torro mit seinen Jesuiten? Mittlerweile beklage ich mich nicht, denn je länger ich im Gefängnis bleibe, desto stärker wird sich die Bewegung zu Gunsten der Modernen Schule entfalten, und es ist mir lieber, das dem so sei."
Ferrer sollte sich diesmal nicht getäuscht sehen. In der Tat brach unter den Völkern aller Länder ein solch einmütiger Entrüstungssturm der freiheitlich und gerecht denkenden Menschen und besonders des revolutionären Proletariats aus, dass die spanische Herrscherclique ihre politischen und finanziellen Interessen dadurch gefährdet sah und es für weiser hielt, für diesmal von ihrem Mordanschlag auf Ferrers Leben abzustehen. Mangels aller Beweise war der Gerichtshof schließlich gezwungen, Ferrer freizusprechen und ihm sein Vermögen, auf das man es hauptsächlich abgesehen hatte, zurückzuerstatten.
Während seines Aufenthaltes im Gefängnis hat Ferrer, um die Langeweile zu verscheuchen, in Gedanken stets mit seinen Prinzipien beschäftigt, die folgenden, für seine Geistesart sehr charakteristischen Sentenzen an die Mauer seiner Zelle geschrieben:
"Habt nie von anderen etwas zu bekommen! Gedenket stets, dass die Schlauen und Machtvollen, selbst wenn sie euch die schönsten Dinge geben, euch zu Sklaven machen! Danach zu suchen, die Übereinstimmung aller Menschen auf Liebe und Brüderlichkeit zu gründen, ohne Unterschied des Geschlechtes oder der Klasse, darin besteht die grosse Aufgabe der Menschheit. Ihr haben wir alle uns gewidmet in den rationalistischen Schulen, in denen wir unsere Schüler nur das lehren, was auf wissenschaftlicher Wahrheit beruht. Diese gleichen Wahrheiten, verbürgt als solche durch Erfahrung und die Lehren der Geschichte, werden schließlich den enterbten Klassen den Weg zum Freiheitssiege weisen. Die arbeitenden Klassen werden sich erst dann aus der Sklaverei befreien, wenn sie, von ihrer Stärke überzeugt, die Führung ihrer Angelegenheiten in ihre eigenen Hände nehmen, ohne noch den begünstigten Klassen zu vertrauen, von ihnen etwas zu erwarten.
Wären die Menschen schon Vernunftwesen, so würden sie keinerlei Ungerechtigkeiten gegen sich oder ihre Mitmenschen dulden, noch könnten sie einen Wunsch empfinden, Ungerechtigkeiten zu begehen. Keinen Göttern oder Ausbeutern Verehrung und Dienstbarkeit! Statt dessen: lernen wir alle, einander zu lieben! Mein Ideal ist, zu lehren – nur das zu lehren, was vernunftgemäss und wissenschaftlich – so zu lehren, wie die "Escuela Moderna" es tut, deren Lehre Menschlichkeit und Würde verleiht.
Ein Weib leidenschaftlich lieben und ein Ideal zu haben, dem ich dienen kann; den Wunsch haben, dafür zu kämpfen, bis ich gesiegt habe – wonach sonst kann ich verlangen oder mich sehnen ?
Physisch, geistig und moralisch kerkert die Schule Kinder ein, um die Entwicklung ihrer Anlagen in gewünschte Pfade zu leiten. Die heutige Erziehung ist nichts als ein Drill. Ich liebe die freie Spontaneität des Kindes und verabscheue die geistige Unförmigkeit des Kindes, das unserer gegenwärtigen Erziehung unterworfen ist. So lange keine Änderung des Systems eingetreten ist, das sich bis in die Gegenwart erhält, solange keine Anstrengung gemacht wird, die Verbrechen, die heute der Bestrafung anheimfallen, unter allen Umständen zu verhüten, nämlich durch Errichtung einer verbrüdernden Organisation der Gesellschaft – so lange wird jedermann, verurteilt im Namen der Justiz, ungerecht verurteilt sein."
Nach seiner Haftentlassung widmete sich Ferrer mit erneuter Kraft seiner Lebensaufgabe. Er hatte im Gefängnis den nachfolgenden Aufsatz verfasst, der gewissermassen als ein Bekenntnis seiner Überzeugung und ein Programm seines Wirkens anzusehen ist. Derselbe erschien unter dem Titel:
"Der wissenschaftliche Rationalismus"
Als wir vor sechs Jahren (1901) die große Freude erlebten, die Moderne Schule von Barcelona eröffnen zu können, haben wir mit Nachdruck hervorgehoben, dass das Unterrichtssystem derselben vernunftgemäss und wissenschaftlich sein wird. Unser Hauptbestreben war vor allem, das Publikum darauf aufmerksam zu machen, dass, da wir die Vernunft und die Wissenschaft als das Gegenmittel für alle Dogmen ansehen, in unserer Schule keinerlei Religion unterrichtet werden wird.
Wir wussten, dass wir mit diesem Entschluss den Hass der Priesterklasse gegen uns heraufbeschworen, und dass dieselbe uns mit allen Mitteln bekämpfen wird, welche gewöhnlich von jenen angewendet werden, die ausschliesslich von der Lüge und dem Betruge leben und es so gut verstehen, den Einfluss, den ihnen die Unwissenheit ihrer Getreuen und die Macht des Staates verschafft, zu missbrauchen.
Je mehr man uns die Waghalsigkeit zeigte, welche darin lag, sich so offen der herrschenden Kirche entgegenzustellen, desto mehr Mut fühlten wir in uns, um in unserem Unternehmen auszuharren; denn wir waren überzeugt, dass, je größer ein Übel und je mächtiger eine Tyrannei ist, umso mehr Kraft nötig ist, dieselbe zu bekämpfen, umso mehr Energie man daran wenden muss, sie zu zerstören.
Das allgemeine Wutgeschrei, das sich in der klerikalen Presse gegen die Moderne Schule erhoben hat – und dem ich wahrscheinlich ein Jahr Gefängnis verdanke – hat uns bewiesen, dass, vertrauend auf die Vortrefflichkeit dieser Unterrichtsmethode, wir alle freiheitlich Denkenden mit neuer Begeisterung erfüllen müssen, um das Werk mit größerer Entschlossenheit als je fortzusetzen, um es, soweit nur unsere Kräfte reichen, zu vergrössern und zu verbreiten.
Wir müssen aber bemerken, dass die Aufgabe der Modernen Schule nicht auf den Wunsch beschränkt ist, aus den Gehirnen, die religiösen Vorurteile zu entfernen. Es ist wahr, dass dieselben vielleicht am meisten der geistigen Befreiung der Menschen im Wege stehen, aber ihre Zerstörung kann nicht genügen, um uns die Vorbereitung einer freien und glücklichen Menschheit zu sichern; denn man kann sich ein Volk ohne Religion, aber gleichzeitig nicht ohne FREIHEIT vorstellen. Wenn sich die Arbeiterklasse vom religiösen Vorurteil befreit, aber das Vorurteil des Privateigentums, so wie dasselbe heute besteht, bewahrt; wenn die Arbeiter dem Märchen Glauben schenken, welches behauptet, dass es immer Reiche und Arme geben wird; wenn sich der freigeistige Unterricht damit begnügen muss, Kenntnisse über Hygiene und Naturwissenschaften zu verbreiten und einzig und allein gute Lehrlinge, gute Handlungsgehilfen, gute Angestellte, gute Arbeiter, gute Bürger in allen Arbeitszweigen zu erziehen, können wir ganz gut Atheisten sein und können, soweit die kärgliche Nahrung, die wir mit unseren elenden Löhnen uns beschaffen können, es erlaubt, ein mehr oder weniger gesundes und kräftiges Leben zu führen – aber wir werden immer die Sklaven des Kapitals und des Staates bleiben.
Die Moderne Schule will alle Vorurteile bekämpfen, welche die vollständige Befreiung der Menschen verhindern. Deshalb wendet sie sich an die menschliche Vernunft, das heisst, sie will den Kindern den Wunsch einimpfen, den Ursprung aller gesellschaftlichen Ungerechtigkeiten zu erkennen, damit sie dieselben dann ihrerseits bekämpfen und ihnen widerstehen können.
Unser Freidenkertum bekämpft die brudermörderischen Kriege, die inneren, so wie die äußeren; der Freiheitsbegriff, den die Moderne Schule lehrt, bekämpft die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen; die Knechtschaft des Weibes ; er bekämpft somit alle Feinde der menschlichen Harmonie: die Unwissenheit, die Schlechtigkeit, den Hochmut und andere Laster und Fehler, welche die Menschen in Unterdrücker und Unterdrückte teilen.
Der vernunftgemässe und wissenschaftliche Unterricht der Modernen Schule umfasst, wie man sieht, das Studium all dessen, was die Freiheit jedes Einzelnen und die Harmonie der Gesamtheit fördert zur Erreichung eines Gesellschaftszustandes des Friedens, der Liebe und des Wohlstandes für Alle, ohne Unterschied der Klassen und Geschlechter.
Francisco Ferrer Carcel Modelo de Madrid, den 1. Juni 1907
Die Erneuerung der Schule
Für jene, die die Erziehung der Kindheit erneuern wollen, bieten sich zwei Mittel zum Handeln dar: An der Umgestaltung der Schule zu arbeiten durch das Studium des Kindes, um wissenschaftlich zu beweisen, dass die bestehende Organisation des Unterrichtes fehlerhaft ist und um stufenweise Verbesserungen einzuführen; oder neue Schulen zu gründen, in welchen unmittelbar jene Grundsätze angewendet werden, die die Herkömmlichkeiten, Vorurteile, Grausamkeiten, Betrügereien und Lügen, auf denen die heutige Gesellschaft aufgebaut ist, verdammen.
Die erstere Art bietet jedenfalls große Vorteile. Sie entspricht einer entwicklungsgemässen Auffassung, die die Männer der Wissenschaft verteidigen werden, und die ihrer Ansicht nach die einzige ist, die zum Ziele führt. In der Theorie haben sie Recht; und wir sind bereit, dies anzuerkennen. Es ist augenscheinlich, dass die Beweisführungen der Psychologie und Physiologie wichtige Veränderungen in den Erziehungsmethoden herbeiführen müssen; dass die Lehrer, wenn sie das Kind besser verstehen, ihren Unterricht den natürlichen Gesetzen besser anpassen können werden. Ich gebe sogar zu, dass diese Entwicklung in der Richtung der Freiheit vor sich gehen wird, denn ich bin überzeugt, dass der Zwang nur das Ergebnis der Unwissenheit ist und dass der Erzieher, der wirklich dieses Namens würdig ist, alles durch das freiwillige Entgegenkommen des Kindes erreichen wird, denn er wird die Wünsche des Kindes kennen und wird dessen Entwicklung unterstützen, indem er dieselbe einfach so weit als möglich befriedigt.
Aber im wirklichen Leben glaube ich nicht, dass jene, die für die Befreiung der Menschheit kämpfen, viel von diesem Mittel erwarten können. Die Regierungen haben zu jeder Zeit darauf Bedacht genommen, dass sie in der Erziehung des Volkes die Oberhand haben. Sie wissen besser als irgendjemand, dass ihre Macht beinahe ausschliesslich auf der Schule beruht. Deshalb bemächtigen sie sich mehr und mehr derselben.
Die Zeiten sind vorüber, wo sie sich der Verbreitung des Lernens widersetzten oder die Erziehung der Massen einzuschränken suchten. Diese Taktik war für sie ehedem möglich, denn das wirtschaftliche Leben der Völker gestattete die Unwissenheit des Volkes, jene Unwissenheit, welche die Herrschaft so leicht macht. Doch die Umstände haben sich geändert. Der Fortschritt der Wissenschaften und die Erfindungen aller Art haben eine Umwälzung in den Arbeits- und Produktionsverhältnissen herbeigeführt. Es ist heutzutage nicht mehr möglich, dass das Volk unwissend bleibt; es ist notwendig, dass es wohlunterrichtet sei, damit die wirtschaftliche Lage eines Landes der internationalen Konkurrenz standhalten und fortschreiten kann.
Von diesem Augenblick an wollen die Regierungen den allgemeinen Volksunterricht, sie wollen eine immer vollkommenere Organisation der Schule; nicht, weil sie durch die Errichtung die Erneuerung der Gesellschaft erhoffen, sondern weil sie Menschen, Arbeiter, vervollkommnetere Arbeitswerkzeuge brauchen, um aus den industriellen Unternehmungen und den darin angelegten Kapitalien Profit zu gewinnen. Und man sieht, wie nun die reaktionären Regierungen dieser Bewegung Folge leisten. Sie begreifen vollkommen, dass die alte Taktik für das wirtschaftliche Leben der Nationen gefährlich wurde, und dass man die Volkserziehung den neuen Bedürfnissen anpassen müsse.
Aber es wäre ganz falsch, anzunehmen, als ob die Regierenden nicht die Gefahren vorausgesehen hätten, die aus der intellektuellen Entwicklung des Volkes für sie erwächst, und dass sie die Mittel ihrer Herrschaft ändern müssen. Ihre Methoden haben sich auch den neuen Gegebenheiten des Lebens angepasst, und sie haben darauf hingearbeitet, die Leitung der sich entwickelnden Ideen in ihrer Hand zu behalten. Indem sie sich bemühen, den Glauben auf welchem ehemals die gesellschaftliche Disziplin aufgebaut war, zu erhalten, versuchten sie, den Ideen, die aus den wissenschaftlichen Forschungen entstanden, eine Bedeutung zu geben, welche den bestehenden Einrichtungen nicht schaden kann. Und dafür haben sie sich der Schule bemächtigt. Sie, die früher die Sorge um die Erziehung des Volkes den Priestern überließen, weil diese für eine solche Aufgabe vollkommen geeignet waren, nahmen nun überall die Leitung der Schulorganisation selbst in die Hand. (...)***
So wie sie, als die Notwendigkeit der Volkserziehung sich geltend machte, es verstanden haben, sich anzupassen, so dass diese Erziehung zu keiner Gefahr für sie werde – ebenso werden sie es verstehen, die Schule den neuen Grundsätzen der Wissenschaft gemäss neu zu organisieren, damit nichts ihre Herrschaft gefährden kann, Dies sind freilich Ideen, die bei vielen schwer Eingang finden; aber man muss von nahe gesehen haben, was vorgeht und wie die Sachen in der Wirklichkeit geschehen, um sich nicht durch hochtönende Worte betrügen zu lassen. (...)***
"Jungens trefft gut! Ich bin unschuldig. Es lebe die Moderne Schule!",
waren Ferrers letzten Worte. So starb der spanische Vorkämpfer der weltlichen, freien Schule; ein Opfer seiner Idee, ein Opfer des Klerikalismus.
Als die Ermordung Ferrers bekannt wurde, durchflutete eine Welle der Empörung die ganze Welt. Überall kam es zu gewaltigen Demonstrationen, in den romanischen Ländern auch zur Arbeitsniederlegung als Protest gegen den infamen Schurkenstreich der Finsterlinge. In Paris ereigneten sich blutige Unruhen vor der spanischen Botschaft. Sogar die deutsche Intelligenz raffte sich damals auf, um gegen den Justizmord des katholischen Kirchenstaates Spanien an Francisco Ferrer Stellung zu nehmen. Spanien stand am Schandpfahl der öffentlichen Meinung, aber Ferrer lebte nicht mehr.
*(Anm.: Francisco Ferrer wurde am 13.10.1909 nach der blutigen Repression gegen eine Streikwelle von Arbeiterinn und Arbeitern in Spanien hingerichtet. Seine Ermordung sorgte weltweit für Empörung)
Zu dem Fall Ferrer berichtete die Presse folgendes
"Das Unglaubliche, Ungeheuerliche ist geschehen: der spanische Freidenker Francisco Ferrer ist gestern vormittag in Vollstreckung des gegen ihn gefällten Todesurteils erschossen worden. Das ist nicht bloß ein nackter Justizmord, eine Verhöhnung der Gerechtigkeit und aller Rechtsformen...."
Frankfurter Zeitung, 14. 10. 1909
"Blutdurst umnebelt das Gehirn der spanischen Pfaffen, der spanischen Regierung, des spanischen Königs. Denn unerklärlich wäre sonst die Frechheit, mit der sie der ganzen öffentlichen Meinung Europas Trotz zu bieten wägen. Sie haben sich nicht nur unterfangen, Francisco Ferrer vor das Kriegsgericht Barcelonas zu stellen, weil sie wussten, dass der Schuldlose von jedem ordentlichen Gericht freigesprochen werden musste. Sie haben Schlimmeres verübt und den Mann, dem nichts zur Last fällt, als dass er in dem Lande der Analphabeten und der Mönche für eine moderne, religionslose Schule gekämpft hat, den Pfaffen als Schlachtopfer preisgegeben ".
Vorwärts, Berlin, 14.10.1909
"Der feige Justizmord auf der spanischen Bergfeste Montjuich hat in der ganzen Welt Abscheu und Entrüstung hervorgerufen. Der Name des Ermordeten, Francisco Ferrer, wird in allen Erdteilen genannt, und sein trauriges Geschick hat in allen Ländern heftige Proteste gegen das Schreckensregiment des fanatischen spanischen Klerus ausgelöst, der nach Rache für den Barcelonaer Klostersturm schreit und alle jene vor die Schranken des Kriegsgerichts schleppt, die durch ihre antiklerikale Agitation seinen Hass herausgefordert haben....Als ein Mann, der das Mönchsregiment bekämpft hat, der, obgleich unschuldig, mit Festigkeit für seine Anschauungen in den Tod gegangen ist, verdient Ferrer unsere volle Sympathie."
Vorwärts, Berlin, 17.10.1909
Aus: Erstveröffentlichung in "Die Befreiung" Nr. 7 u.f.,1966
Originaltext:
http://www.twokmi-kimali.de/texte/Ramus_Ferrer_die_moderne_Schule.htm
Hervorhebungen, Kürzungen, sowie der nachstehende Gedanke von seniora.org
*** Ist es so falsch, wenn man sich bei einigen Ausführungen Ramus' an die Bologna-Reform erinnert fühlt?