Kinder brauchen Beziehung – Ritalin ist keine Lösung
Kinder brauchen Beziehung – Ritalin ist keine Lösung
von Dr. phil. Judith Barben, Psychologin und Lehrerin (Baden), und lic. phil. Nadia Müller, Psychologin (Aadorf)
Seit einiger Zeit tauchen die Begriffe «Hyperaktivität», «ADS» und «ADHS» überall auf. Was bedeuten sie? Helfen sie weiter? «ADHS» ist die Abkürzung für «Aufmerksamkeitsdefizitstörung mit Hyperaktivität», «ADS» für «Aufmerksamkeitsdefizitstörung ohne Hyperaktivität». Früher verwendete man die Begriffe POS (Kindliches psychoorganisches Syndrom) oder MCD (Minimale cerebrale Dysfunktion). All diesen Begriffen liegt ein biologisches Persönlichkeitsmodell zugrunde, nämlich die Vorstellung, dass Kinder, die Mühe haben, sich zu konzentrieren, die unruhig, aggressiv oder impulsiv sind und mit ihren Mitmenschen häufig in Konflikte geraten, eine hirnorganische Störung hätten.
Die Diagnose «ADS» wird in letzter Zeit sogar auf stille und verträumte Kinder ausgeweitet. Erstaunlicherweise wird die Annahme einer hirnorganischen Störung in Ermangelung irgendeiner ernstzunehmenden wissenschaftlichen Studie gemacht. Tatsächlich hat man bis heute keine hirnorganische Abweichung bei Kindern mit solchen Diagnosen gefunden.1
Psychologen und Pädagogen warnen davor, gesunde Kinder mit psychiatrischen Diagnosen zu versehen. Dies könnte zu einer unheilvollen «Psychiatrisierung der Pädagogik»2 führen. Die pädagogische Verantwortung des Lehrers würde untergraben, und die Lehrer würden beginnen, ihre Kinder nicht mehr als Schüler zu sehen, sondern als Patienten, die Behandlung bräuchten.
Psychiatrisierung gesunder Kinder
Tatsächlich wird Lehrern und Kindergärtnerinnen in einzelnen Weiterbildungen empfohlen, ihre Schüler daraufhin zu beobachten, ob sie irgendwelche «Störungszeichen» hätten wie motorische Unruhe, Ungeschicklichkeit oder Unkonzentriertheit. Hätten die Kinder solche Zeichen, so sei es wichtig, die Eltern an die entsprechenden Fachleute wie Kinderpsychologen, Kinderpsychiater oder Kinderärzte weiterzuweisen. Diese könnten das Kind auf «ADS» oder «Hyperaktivität» abklären. Nicht selten haben solche Empfehlungen zur Folge, dass die Lehrer sich innerlich aus der pädagogischen Verantwortung gegenüber den Kindern zurückziehen.
In Wirklichkeit obliegt dem Lehrer die schöne und anspruchsvolle Aufgabe, die Stärken und Schwächen seiner Schüler zu erkennen, die Kinder durch sein pädagogisches Wirken zu stärken und zu fördern und ihnen über Schwächen hinwegzuhelfen. Gerade in der Volksschule ist es grundlegend, dass die Lehrerin oder der Lehrer zur Klasse eine tragende Beziehung aufbaut und sie zu einer Lerngemeinschaft zusammenführt.3
Was hat ein Psychopharmakon mit Kindern zu tun?
Vertreter des biologischen Persönlichkeitsmodells empfehlen Ritalin® als «Heilmittel» für unruhige Kinder. Ritalin ist ein hoch-potentes Aufputschmittel (Stimulans) und gehört zur Stoffgruppe der Amphetamine.4 Es ist nur mit Betäubungsmittelrezept erhältlich. Die chemische Wirksubstanz ist Methylphenidat. Methylphenidat ist auch unter den Markennamen Concerta® oder Metadate® erhältlich. Alle Amphetamine unterliegen weltweit strengen Beschränkungen der Betäubungsmittelgesetze. Ritalin steht auf der Liste der gefährlichen Suchtstoffe der Uno-Drogenkontrollbehörde INCB. In der Drogenszene heisst Amphetamin «Speed», Ritalin wird «Vitamin R» genannt. Amerikanische Bomberpiloten nehmen Amphetamin, um bei Kampfeinsätzen fit zu bleiben.5 Jugendliche und Erwachsene können davon süchtig werden, Kinder soll es beruhigen. Die Wirkung hält einige Stunden an. Danach tritt die Unruhe oft verstärkt auf («Rebound-Effekt»). In Ausnahmefällen geraten Kinder unter Ritalin in Erregungszustände oder Psychosen. Die häufigsten Nebenwirkungen sind nervöse Tics, Schlafstörungen, Appetitlosigkeit und Hautausschläge.
Hirnschäden durch Ritalin?
Aus ärztlicher Sicht ist Methylphenidat (Ritalin®) nicht unbedenklich, vor allem, wenn es über längere Zeit und regelmässig eingenommen wird. Studien über Langzeitschäden im Gehirn des Menschen existieren bisher nicht.6 Methylphenidat greift massiv in den Hirnstoffwechsel ein, und zwar erhöht es die Konzentration von Dopamin (einem wichtigen Botenstoff) bei den Nervenschaltstellen (Synapsen). Die chronische Stimulierung des Dopaminsystems lässt Wissenschafter befürchten, der längerfristige Konsum von Ritalin könnte zum Absterben von Nervenzellen und zu einem irreversiblen Dopaminmangel führen. In Tierexperimenten wurden solche Schäden bereits nachgewiesen. Versuchstiere, die in jungem Alter Ritalin erhielten, entwickelten später neurologische Störungen, die der Parkinsonkrankheit (Schüttellähmung) glichen.7 Die Parkinsonkrankheit ist eine invalidisierende neurologische Erkrankung, bei der ein irreversibler Dopaminmangel vorliegt.
Zwei neuere Studien aus den USA belegen zudem einen Zusammenhang zwischen Ritalin und Depression.8 Versuchstiere, die als Jungtiere Ritalin erhalten hatten, zeigten später mehr Angstreaktionen, schütteten mehr Stresshormone aus und gaben unter Stress schneller auf als Tiere ohne Methylphenidat. Der Zusammenhang zwischen Amphetamin und Depression ist nicht neu.9 Auch Drogentherapeuten wissen aus der Erfahrung mit Amphetaminsüchtigen, dass diese nach Absetzen des Mittels oft depressiv reagieren.
Zombiehaftes Verhalten
Amphetamine bewirken, dass Personen während mehrerer Stunden hochkonzentriert monotone Routineaufgaben ausführen können.10 Kinder unter Ritalin können beispielsweise ganze Seiten voll sinnloser Buchstabenreihen nach vorgegebenen Buchstabenfolgen absuchen und diese praktisch fehlerfrei markieren. Normalerweise würde ein Kind so etwas nicht tun. Das überangepasste Verhalten kann bis zur Zwanghaftigkeit führen. So begann ein Kind unter Ritalin Puzzleteile zu zählen, ein anderes radierte ständig aus, ein drittes kehrte stundenlang unter einem Baum Blätter zusammen, und ein viertes faltete mit pedantischer Sorgfalt schmutzige Wäsche zusammen.11
Unter Ritalin werden Gesichtsausdruck und Mimik ausdruckslos, die Gefühle verflachen. Emotionen wie Freude, Überraschung, Humor, Kreativität oder Spontaneität nehmen ab. Auch schmerzliche Emotionen wie Eifersucht, Scham oder Wut werden weniger wahrgenommen. Das ganze Gefühlsleben wird durch Ritalin niedergehalten.
Eltern, die diese Veränderung an ihrem Kind beobachten, sprechen besorgt von «zombiehaftem Verhalten»12 und setzen das Mittel ab. Die Kinder selbst schlucken die Tabletten oft widerwillig, denken aber resigniert: «Wenn ich die Pille nehme, kann ich wenigstens so sein, wie ich immer wollte: ordentlich, brav und fleissig.» Eine Mutter meinte: «Mein Sohn war schön ruhig, aber zu ruhig.» Eine andere probierte das Mittel an sich selbst aus und putzte unter Ritalin das ganze Haus, «wie wenn man einen Schalter in mir angedreht hätte». Von einem neunjährigen Knaben stammen die bewegenden Worte: «Mama, wenn ich die Pille nehme, kann ich dich nicht mehr liebhaben, und das ist ganz schrecklich.» Eine ehemalige Drogensüchtige schildert: «Unter Ritalin wird man eiskalt, innerlich wie tot, aber gleichzeitig ist man angetrieben und macht alles wie ein Automat.»
Niederhalten der Gefühle
Das Niederhalten der Gefühle ist entwicklungspsychologisch die schwerwiegendste Wirkung von Ritalin. Denn die Fähigkeit, eigene Gefühle wahrzunehmen und mit ihnen umzugehen, ist eine grundlegende Voraussetzung für die Entwicklung emotionaler Intelligenz und eines tragenden inneren Wesenskerns.13 Durch das Psychopharmakon wird die Reifung und Entwicklung der Persönlichkeit nachhaltig gestört.
Zusätzlich bewirkt das Mittel eine tiefe Resignation. Das Kind beginnt zu glauben, bei ihm stimme etwas im Gehirn nicht. Deshalb könne es in der Schule nicht aufpassen und mit seinen Mitschülern nicht auskommen, ausser wenn es die Tablette genommen habe. Mit diesem zutiefst negativen und resignativen Bild über sich selbst geht das Kind dann ins Leben hinaus.
Wenn nach jahrelanger Ritalin-Einnahme das Mittel abgesetzt wird, steht das Kind gefühlsmässig genau da, wo es vor der Ritalineinnahme stehengeblieben ist, und muss sich mit genau denjenigen Gefühlen auseinandersetzen, mit denen es damals nicht fertig wurde: dieselbe Unsicherheit unter den Menschen, dieselbe nagende Eifersucht, dieselbe Entmutigung, dieselbe Ungeduld beim Lernen wie damals. Nur ist das Kind inzwischen oft kein Kind mehr, sondern es ist ein Jugendlicher geworden – ein Jugendlicher aber, der emotional auf der Stufe eines Kindes stehengeblieben ist. Mit diesem Entwicklungsrückstand muss der junge Mensch nun zusätzlich fertigwerden. Die Jugendlichen realisieren sehr wohl, wenn sie in der emotionalen Entwicklung von Gleichaltrigen und Jüngeren überholt wurden. Dadurch ist die Hilfe für sie nicht einfacher geworden.
Ritalin ist keine Hilfe beim Lernen
Für die meisten Eltern ist es ein schwerer Entscheid, ihrem Kind das Psychopharmakon zu geben. Oft wird ihnen eingeredet, Kinder könnten unter Ritalin besser lernen. Das stimmt nicht.14 Es gibt keine einzige Studie, die einen solchen Zusammenhang belegen würde. Ganz im Gegenteil! Wissenschafter fanden in einer Langzeituntersuchung heraus, dass Jugendliche, die als Kinder Ritalin erhalten haben, im Teenageralter immer noch grosse Probleme mit ihren Familien, in der Schule und beim Lernen haben. Die Zukunftsperspektive dieser Jugendlichen ist nicht rosig.15
Ein Psychopharmakon kann weder inspirieren noch ermutigen noch trösten. Zwar arbeiten Kinder unter der Wirkung des Mittels tatsächlich oft fleissiger und ordentlicher, vergessen ihre Sachen weniger, haben weniger Streit mit den Kameraden und sind für Erwachsene «einfacher zu handhaben». Auch können sie sich bei Routineaufgaben oft besser konzentrieren. Doch all das hat wenig mit wirklichem Lernen zu tun. Bei Aufgaben, die echtes Lernen, das Aufnehmen von Neuem, kreatives und eigenständiges Denken erfordern, schneiden Kinder unter Ritalin deutlich schlechter ab.16
Psychologie des Lernens
Echtes Lernen erfordert den ganzen Menschen, sein Fühlen ebenso wie sein Denken. Lernen ist von vielfältigen Emotionen begleitet wie Freude, Kreativität, Neugier, Forscherdrang, Interesse, Ehrgeiz oder Stolz. Gesunde Kinder, die sich bei Eltern und Lehrern aufgehoben und unterstützt fühlen, lernen gerne.17
Lernen ist zudem in das Beziehungsnetz des Kindes eingebettet. So geniesst ein Kind es vielleicht, mit einem Freund oder einer Freundin zusammen eine Aufgabe zu lösen, ein zweites möchte dem Lehrer zeigen, wie gut es schon rechnen kann, ein drittes freut sich, zu Hause am Mittagstisch Eltern und Geschwistern zu erzählen, was es heute in der Schule Interessantes gelernt hat, und ein viertes kann es kaum erwarten, schreiben zu lernen, weil es seiner Grossmutter aus den Ferien eine Karte schreiben will.
Umgekehrt kann ein Kind in seiner Lernfähigkeit und Aufmerksamkeit deutlich eingeschränkt sein, wenn es etwa empfindet, die Eltern würden es weniger beachten als ein Geschwister, sie seien nie zufrieden mit ihm oder sie würden ihm das Lernen nicht zutrauen. Ein solches Kind ist mit Gefühlen wie Mutlosigkeit oder Unsicherheit beschäftigt. Es kann sich innerlich nicht auf den Lernstoff einlassen. Solche Gefühle mit einem Psychopharmakon zu unterdrücken, löst kein Problem. Das Kind und seine Eltern brauchen echte Hilfe.
Wie helfen wir einem Kind?
Wenn wir einem Kind, das Schwierigkeiten hat, helfen wollen, sollten wir zuallererst verstehen, was es beschäftigt. Es gibt vielerlei Gründe, die ein Kind verunsichern oder unruhig machen, so dass es Mühe hat, sich beim Lernen zu konzentrieren, in Tagträume abschweift, nicht zuhört, ständig seine Sachen vergisst, viel mit Geschwistern und Spielkameraden streitet, sich aggressiv verhält, stets das Gegenteil von dem macht, was man von ihm will, oder sich trotzig verweigert.
Nicht selten sind Eifersucht oder ein Gefühl des Zurückgesetztseins im Spiel oder – wie im Fall der kleinen Sina – eine Abwehr dagegen, sich etwas sagen zu lassen.
Die Fünfjährige wird zu Hause als Nesthäkchen und einziges Mädchen von der Mutter speziell umsorgt und beachtet. Die beiden älteren Brüder gehen geduldig und verständnisvoll mit ihr um. Sina hingegen kommandiert die Grossen herum und ist beleidigt, wenn sie nicht tun, was sie von ihnen verlangt. Fordern hingegen die Brüder Sina einmal zur Mithilfe im Haushalt auf, entgegnet sie trotzig: «Das kannst du selber machen, ich bin noch zu klein!» Ob sie etwas lernen möchte oder nicht, bestimmt Sina selbst. Zum Beispiel will die Mutter, dass sie ihre Jacke zuknöpft. Doch Sina will nicht. Sie macht ein Geschrei und besteht darauf, dass sie es nicht könne. Sie probiert es nicht einmal. Schliesslich knöpft die Mutter Sinas Jacke zu. Wenn es hingegen ums Schreiben geht, ist Sina mit Begeisterung dabei. Alle bewundern und loben ihre schönen Buchstaben. Mit Gleichaltrigen spielt Sina ungern. Sie zieht es vor, mit ihrer Mutter oder den Brüdern zu spielen. Dort kann sie bestimmen.
Hat Sina ein «ADS»?
Der Kindergarteneintritt ist für Sina ein Schock. Plötzlich bevorzugt oder bewundert sie niemand, keiner lässt sich von ihr herumkommandieren. Statt dessen sollte Sina zuhören und sich an Aktivitäten beteiligen, welche die Kindergärtnerin allen Kindern erklärt. Mit dieser ungewohnten Situation wird das Mädchen nicht fertig. Sie verstummt und wird zum Mauerblümchen. Manchmal sitzt sie alleine auf ihrem Stühlchen und weint still vor sich hin.
Schon bald beginnt die Kindergärtnerin, sich Sorgen zu machen. Sina fällt ihr nicht nur als übermässig schüchtern und gehemmt auf, sondern auch als motorisch äusserst ungeschickt und unselbständig. Häufig versteht sie Aufgabenstellungen nicht oder kann sie nicht umsetzen. So schneidet sie einem Papierstern alle Ecken ab, statt ihn auszuschneiden.
Die Kindergärtnerin glaubt, Sina habe Wahrnehmungsprobleme und sei den Anforderungen des Kindergartens nicht gewachsen. Sie vermutet ein «ADS» (Aufmerksamkeitsstörung). Sie beginnt, sich dem Mädchen speziell zuzuwenden, tröstet es und erklärt den Kindern, Sina könne nichts dafür, dass sie so ungeschickt sei, sie könne es nicht besser. Nun hat Sina auch bei der Kindergärtnerin eine Sonderstellung erreicht – wie bei der Mutter. Doch diese Sonderstellung und das Mitleid tun ihr nicht gut.
Was braucht Sina wirklich?
Die Mutter und die Kindergärtnerin müss-ten sich ganz sicher sein, dass Sina nicht bemitleidet werden muss, weil sie jünger ist als ihre Brüder oder weil andere Kinder gewisse Dinge schon besser können. Im Gegenteil hat das Mädchen dadurch die schöne Gelegenheit, von den anderen Kindern zu lernen. Das jüngste Kind in der Familie hat den Vorteil, dass es sich vieles von den Älteren abschauen kann. Diese positive Sichtweise müssen die Mutter und die Kindergärtnerin Sina mit Überzeugung vermitteln. Sie müssen von Sina verlangen, dass sie mit dem Geschrei und den Tränen aufhört, dass sie sich etwas zeigen lässt und beginnt, die Dinge zu üben, die andere Kinder ihres Alters auch üben müssen. Sina wird sich – am Anfang vielleicht noch murrend – auf die veränderte Haltung der Kindergärtnerin und der Mutter einstellen. Wichtig ist allerdings, dass diese sich gefühlsmässig ganz sicher sind. Wenn sich nach einigen Wochen die Erfolge und Fortschritte einstellen, wird Sina vielleicht zur Mutter sagen: «Weisst du noch, Mama, früher als ich noch klein war, da habe ich immer geschrien, wenn ich etwas nicht konnte. Das mache ich jetzt nicht mehr. Jetzt probiere ich es einfach.» Fehlhaltungen wie bei Sina können in diesem Alter noch relativ leicht korrigiert werden.
Hingegen kann man sich ausmalen, was geschehen würde, wenn ein Kinderarzt oder Kinderpsychiater bei Sina ein «ADS» diagnostizieren würde. Ihr Unterlegenheitsgefühl gegenüber Gleichaltrigen und ihre Fehlhaltung würden durch die psychiatrische Diagnose noch verstärkt und verfestigt.
Warum stört Michael den Unterricht?
Aus Sicht des biologischen Erklärungsansatzes wäre Michael ein typischer «ADHS»-Fall (Aufmerksamkeitsstörung mit Hyperaktivität). Was steht hinter seinem Verhalten? Der Fünftklässler ist überzeugt, er könne nicht rechnen. Bei jedem Fehler denkt er: «Typisch ich, das müsste ich doch längst können!» Weil der Knabe mit dem Gefühl des Versagens und der Scham beschäftigt ist, kann er sich innerlich nicht aufs Rechnen einlassen. Er schweift immer wieder ab, denkt an den freien Nachmittag und ans Fussballspielen und macht viele Fehler. Dies wiederum bestätigt ihn in der Überzeugung, er könne nicht rechnen. Da Michael diese ständige Minussituation nicht aushält, verschafft er sich auf andere Weise Beachtung. Er spielt den Klassenclown und stört den Unterricht. Einige Mitschüler lachen, andere ärgern sich. Das führt zu Konflikten. Der Lehrer ermahnt Michael, gibt ihm Strafarbeiten oder redet ihm zu: «Gerade du, Michael, hättest es doch besonders nötig, im Rechnen aufzupassen.» Wüsste der Lehrer, was den Knaben beschäftigt, würde er vielleicht Worte finden wie: «Weisst du, Michael, wenn du es wirklich probierst, kannst du ebenso gut rechnen lernen wie alle anderen. Ich helfe dir dabei.» Er würde sich an Michaels Seite stellen, ihn ermutigen und ihn anleiten, sich konstruktiv am Unterricht zu beteiligen.
Fernsehen und Computerspiele
Bei der Zunahme von Lern- und Verhaltensstörungen spielen die Medien eine nicht zu unterschätzende Rolle. Wissenschaftliche Studien haben nachgewiesen, dass häufiger Fernsehkonsum zu vermehrten Konzentrationsstörungen und zu vermehrtem impulsivem und unruhigem Verhalten führt. Einer Studie zufolge wächst das Risiko für Aufmerksamkeitsprobleme mit jeder TV-Stunde pro Tag um zehn Prozent. Kinder mit ADS/ADHS-Diagnosen verbringen im Durchschnitt fast eine Stunde länger vor dem Fernseher als andere.18
Noch schädlicher als das Fernsehen sind Computerspiele. Viele davon sind extrem gewalttätig. So etwa «Doom», «Quake» oder «Counter-Strike». Diese «Spiele» sind eigentlich keine Spiele, sondern Tötungstrainings für Soldaten. Es sind Computerprogramme, an denen US-Soldaten zum Schiessen auf Menschen konditioniert werden. Da die Tötungshemmung beim Menschen von Natur aus fast unüberwindlich ist, können Soldaten nur durch intensives Training dazu gebracht werden, auf Menschen zu schiessen. Diesen militärischen Trainingsprogrammen haben amerikanische Firmen ein neues «Design» verpasst, um sie für unsere Jugend «attraktiv» zu machen!19 Diese «Spiele» sind in Wirklichkeit Massenmordsimulatoren. Beispielsweise muss sich der «Spieler» einen Weg zum Ziel freischiessen. Je mehr Menschen er umbringt, desto höher steigt er im «level». Manchmal gibt es Bonuspunkte für Brust- und Kopfschüsse.
Computerspiele üben eine noch viel stärkere Faszination aus als das Fernsehen, denn sie sind «interaktiv». Das heisst, sie erfordern eine ständige, blitzschnelle Reaktionsbereitschaft, man darf keinen Bruchteil einer Sekunde abgelenkt sein. Gebannt starrt der «Spieler» auf den Bildschirm oder das Display. Mütter berichten, dass ihre Kinder während des «Spiels» kaum ansprechbar, danach missmutig, aggressiv und lustlos sind. Die Kinder und Jugendlichen bestätigen dies. Ein 15jähriger sagte, er fände es selbst nicht gut, dass er diese Spiele spielen würde, aber er sei «süchtig» danach.
Entwicklungspsychologische Befunde und Medienkonsum
Die Zeit vor dem Bildschirm ist verlorene Lebenszeit. Nicht selten sitzen Kinder stundenlang passiv und reglos vor dem Fernseher, überflutet von verwirrenden Reizen, die sie nicht verarbeiten können. Als einzige Bewegung schieben sie sich Süssigkeiten oder Snacks in den Mund oder betätigen die Fernbedienung. Während dieser Stunden haben die Kinder keine Möglichkeit, Fähigkeiten zu entwickeln, die sie für ihr Leben so notwendig bräuchten.20
Kinder brauchen ihre Zeit, um sich aktiv mit der Welt auseinanderzusetzen. In der tätigen Auseinandersetzung bilden sich körperliche Geschicklichkeit und Raumgefühl, durch die aktive Bewegung wird die Muskulatur aufgebaut und gekräftigt. Auch Kreativität und Phantasie entstehen nur durch Aktivität und Spiel in der realen Welt. Kinder benötigen Zeit und Ruhe, um eigene innere Bilder entstehen zu lassen. Das passive und hektische Konsumieren klischeehafter vorgegebener Fernsehbilder hingegen lässt Kreativität und Phantasie verkümmern.
Weiter müssen Kinder ihre sozialen Fähigkeiten entwickeln und einüben. Im gemeinsamen Spiel mit anderen lernen sie, sich auseinanderzusetzen, eigene Ideen einzubringen, Vorschläge anderer aufzugreifen, sich zu einigen und gemeinsam nach Lösungen zu suchen. Durch diese sozialen Lernprozesse erstarken Kinder in ihrer Persönlichkeit.
In der Familiengemeinschaft lernen die Kinder mitzutun, mitzudenken und Verantwortung zu übernehmen – etwa beim Mithelfen im Haushalt, bei gemeinsamen Ausflügen oder bei Gesprächen am Familientisch.
Oft gelingt es leichter als erwartet, Kinder für sinnvollere Beschäftigungen als den Medienkonsum zu gewinnen. So begann ein Achtjähriger, der vorher suchtartig auf seinen Gameboy fixiert gewesen war, täglich mit seiner Mutter zu lesen. Die Mutter hatte ihm klar und bestimmt gesagt, der Gameboy tue ihm nicht gut, sie wolle nun mit ihm lesen. Inzwischen freut sich der Bub jeweils bereits am Morgen auf die gemeinsame Vorlesestunde mit der Mutter.
Für Väter und Mütter scheint es vielleicht bequem, die Kinder manchmal ruhig vor dem Fernseher oder Computer zu wissen. Doch wenn sie sich vor Augen führen, wie stark der Medienkonsum der Entwicklung schadet, werden sie nach Möglichkeiten suchen, den Alltag mit ihren Kindern sinnvoller zu gestalten.
Familiäre und schulische Belastungen
Neben dem Medienkonsum können belastende Situationen in der Familie dazu führen, dass ein Kind «schwierig» wird – zum Beispiel wenn die Eltern Streit haben oder in Trennung sind. Kinder spüren Beziehungskonflikte zwischen Vater und Mutter, auch wenn diese nicht offen ausgetragen werden. Uneinigkeit der Eltern in Erziehungsfragen belastet Kinder ebenfalls. Manchmal sind es auch Sorgen finanzieller oder beruflicher Art, die bewirken, dass Eltern sich ihren Kindern weniger zuwenden können.
Jedes Kind reagiert anders auf solche Belastungen und Konflikte. Das eine zieht sich innerlich zurück und wird übertrieben brav, ein anderes legt eine verstärkte Anspruchshaltung an den Tag oder spielt die Eltern gegeneinander aus. Wieder ein anderes wird trotzig und aggressiv oder fällt in den Schulleistungen ab.
Der Belastungsfaktor kann auch in der Schule liegen. So stellt zum Beispiel ein zu wenig strukturierter, zu wenig geführter und zu wenig Orientierung gebender Unterricht («offener Unterricht») eine Überforderung für viele Kinder dar.21 Wenn der Lehrer zu früh von den Kindern verlangt, dass sie selbständig arbeiten, verlieren manche den Mut und entwickeln Lernstörungen. Die Fähigkeit, den Schulstoff selbständig zu strukturieren, ist nicht einfach vorhanden. Sie muss in sorgfältig geplanten und altersgemässen Schritten aufgebaut und eingeübt werden. Gerade Kinder, die sorgfältig und genau arbeiten, sind oft besonders stark auf ein positives Echo des Lehrers angewiesen. Auf verwirrende und unklare Anforderungen reagieren solche Kinder mit Selbstzweifeln, Mutlosigkeit und Lernversagen.
Eine weitere Ursache für Problemverhalten kann sein, dass das Kind in seiner Klasse ausgeschlossen wird. Zunehmend kommt es vor, dass Kinder auf dem Pausenplatz und auf dem Schulweg, zum Teil auch in der Schule selbst, systematisch ausgeschlossen, geplagt und gedemütigt werden. Dies ist für das betroffene Kind oft dramatisch und ausweglos.22
Nicht jedes Kind traut sich, mit seinen Eltern oder Lehrern darüber zu sprechen. Es denkt vielleicht, alles würde noch schlimmer oder die anderen hätten recht. Manchmal laufen solche Vorgänge während längerer Zeit von den Erwachsenen praktisch unbemerkt ab. Als Folge entwickeln Kinder oft Lern- und Verhaltensstörungen. Es ist schon vorgekommen, dass ein zugezogener Fachmann die Notlage des Kindes nicht erkannte und ihm ein «ADS» diagnostizierte.
Was können Eltern tun?
Die Erziehungsstilforschung hat ergeben, dass eine erzieherische Haltung, die emotionale Wärme und Herzlichkeit mit klarer Führung und Orientierung verbindet, dazu beiträgt, Kinder zu seelisch ausgeglichenen, kooperativen und belastbaren Erwachsenen heranwachsen zu lassen.23 Erzieher sollten Interesse für das Kind zeigen, es auf Fehlhaltungen hinweisen und es bei Unsicherheiten ermutigen. Im Gespräch über Alltagssituationen und über Fragen wie Verantwortung, Freundschaft, Beziehung und sinnvolle Ziele im Leben vermitteln sie dem Kind oder Jugendlichen ethische Werte, was zur Stärkung und Reifung der Persönlichkeit beiträgt.
Eltern sollten ihren Kindern von Anfang an ruhig und klar sagen, was sie von ihnen erwarten. Dabei spüren Kinder, ob die Eltern es ernst meinen. Sind die Anforderungen unklar oder inkonsequent, reagieren viele Kinder mit Verweigerung, Schreien, Schlagen oder Aggressivität. Wenn Eltern dem Kind Dinge je nach eigener Befindlichkeit erlauben oder verbieten, werden diese verunsichert und orientierungslos. Eine Mutter, die nachgibt, wenn das Kind sie beschimpft, tut diesem keinen Dienst. Viele Mütter geben nach, weil sie die Unzufriedenheit ihrer Kinder nicht aushalten. Doch wie anders als durch das Überwinden von Schwierigkeiten und das Akzeptieren von Grenzen sollen Kinder lernen, sich den Anforderungen und Realitäten des Lebens zu stellen und sich diesen gewachsen zu fühlen?
Väter und Mütter sollten darauf achten, dass sie negative Verhaltensweisen wie Schreien, Schimpfen, Schlagen oder Verweigerung bei den Kindern nicht einfach laufen lassen. Eltern ignorieren solches Verhalten manchmal aus Hilflosigkeit, Resignation oder auch aus purer Bequemlichkeit. Sie mögen sich das mühselige Protestgeschrei der Kinder nicht schon wieder anhören. Doch damit verstärken sie die ungünstigen Verhaltensweisen. Es ist die erzieherische Pflicht und Verantwortung der Eltern, zu solchen Verhaltensweisen in bestimmtem Ton Stellung zu nehmen, wie etwa: «Nein, schimpfen ist keine Lösung. Damit änderst du gar nichts. Du kannst sofort damit aufhören.» Das Unterbrechen des Negativverhaltens allein genügt jedoch nicht. Im gleichen Moment sollte der Erzieher eine positive Alternative aufzeigen, das Kind in eine konstruktive Aktivität verwickeln, wie zum Beispiel: «So, und jetzt gehe ich in die Küche. Du kannst gerade mitkommen und mir helfen, die Kartoffeln zu schälen.»
Stärken der kindlichen Persönlichkeit
Einer vielbeschäftigten Mutter scheint es vielleicht einfacher, das Essen selbst schnell zuzubereiten oder den Haushalt alleine zu erledigen. Doch gerade das Mithelfen im Haushalt stärkt die Persönlichkeit. So hat eine Mutter ihren beiden fünf- und sechsjährigen Buben verschiedene Aufgaben anvertraut: Der jüngere ist verantwortlich dafür, dass auf der Toilette immer eine Reserverolle Toilettenpapier vorhanden ist, während der ältere an jenen Wochentagen, an denen der Kehrichtwagen kommt, daran denken muss, den Inhalt der Treteimer aus Toilette und Bad in den Kehrichtsack zu füllen. Beide Buben sind stolz, dass sie selbständig an ihre Aufgaben denken. Auch helfen sie eifrig beim Kochen mit. Die Mutter hat sie dabei von Anfang an sorgfältig angeleitet. Sie gibt ihnen Aufgaben, welche sie selbständig übernehmen können wie Gemüse rüsten oder den Tisch decken. Bei den gemeinsamen Mahlzeiten wissen die Kinder, dass sie zum Zustandekommen des Essens beigetragen haben. Das gibt ihnen das Gefühl, wichtig für die Familiengemeinschaft zu sein.
Auch die Schule ist von grosser Bedeutung für das Kind. Wie es sich im Klassenverband fühlt, ob es Freunde hat, ob es sich vom Lehrer geschätzt fühlt, ob es beim Lernen Erfolg hat oder nicht – all dies sind gewichtige Faktoren für die Persönlichkeitsentwicklung. Es darf nicht sein, dass ein Kind in der Klasse ausgeschlossen oder abgelehnt wird. Hier muss der Lehrer handeln. Oft hören die Plagereien schnell auf, wenn der Lehrer oder die Lehrerin klar dagegen Stellung nimmt. Ein guter Lehrer kann Weichen im Leben eines Kindes stellen. Positive Schulerfahrungen tragen dazu bei, dass auch Kinder aus belastenden familiären Situationen Freude am Lernen finden und Lebensmut entwickeln.24
Kinder brauchen Beziehung
Die dargestellten Befunde der Entwicklungspsychologie und Erziehungsstilforschung liegen seit Jahrzehnten vor. Sie sollten allen Erziehern bekanntgemacht werden. Es ist entscheidend, dass Eltern und Lehrer wissen, dass das Kind ganz auf sie ausgerichtet ist. Es wächst und entwickelt sich in der Beziehung zu ihnen. Das Kind ist von Natur aus ein Wesen, das immer sucht und probiert, das beobachtet und nachahmt, das ständig neue Wege und Möglichkeiten erprobt, um die Welt zu erforschen und mit seinen Mitmenschen in Beziehung zu kommen. Das Kind gestaltet seinen Weg selbst, doch es ist auf die stetige Beziehung und Orientierung seiner Erzieher angewiesen.
In einen so facettenreichen und komplexen Entwicklungsvorgang mit einem hochpotenten Psychopharmakon wie Ritalin eingreifen zu wollen, erscheint geradezu brutal. Die Verabreichung des Mittels stört das, was das Kind und seine Entwicklung ausmacht: das emotionale Wechselspiel mit seinen Beziehungspersonen, sein neugieriges Erforschen der Welt. Unter der Wirkung des Psychopharmakons kann das Kind vieles von dem, was für sein Leben so wichtig ist, nicht mehr lernen. Ritalin beeinträchtigt somit die natürliche Entwicklung.
Es ist ein Gebot der Zeit, dass wir unseren Kindern und Jugendlichen Beziehung anbieten und ihnen helfen, einen sinnvollen Weg ins Leben zu finden. Auch ist es die Aufgabe von uns Psychologen, Kinderärzten und Kinderpsychiatern, die Eltern in ihrer anspruchsvollen Erziehungsaufgabe zu begleiten und zu unterstützen.
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Artikel 1: Zeit-Fragen Nr.27 vom 12.7.2004, letzte Änderung am 14.7.2004